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Britta Bonten

Achtsamkeit und wie wir durchs Schreiben achtsamer werden können

geschrieben für das Blog start writing von Penoblo, erschienen am 15.11.2021

 



„Mehr Achtsamkeit für deinen Arbeitsalltag“, „Wie du achtsamer isst“, „Lerne neue Wege für einen achtsameren Schlaf“ – an jeder digitalen und analogen Straßenecke begegnet uns Achtsamkeit! Es scheint, als würde es sich um eine Erfindung der jüngsten Zeit handeln! Das ist natürlich Humbug, wie wir weiter unten erfahren.



Photo by Linda H on Unsplash.

 

Die Welt dreht sich gefühlt schneller, alles wird komplexer. Vertrautes wird durch Neues abgelöst. Bei dem Tempo kann es uns schwindelig werden, manche sind verunsichert. Obendrein hat die Pandemie wie ein Brennglas zahlreiche Großbaustellen offengelegt. Der Boden unter unseren Füßen wackelt und wir verlieren unser Gleichgewicht. Was wir brauchen, sind Halt und Orientierung, die uns den Weg weisen, uns stabilisieren. Achtsames Schreiben als Teil der Achtsamkeitslehre kann uns genau dabei helfen!


Woher kommt Achtsamkeit?

Das Prinzip Achtsamkeit entspringt dem Buddhismus in Nordindien. Schreiben kann uns achtsamer machen. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, streifen wir die buddhistische Lehre. Im Mittelpunkt steht die Suche nach dem Nirwana, dem Zustand der Erleuchtung: Hier hat sich der erleuchtete Mensch von jeglichem Leiden (Sorgen, Unzufriedenheit, Vorstellungen) befreit und erfährt sein ultimatives Glück als Freiheit seines Geistes.


Bedeutung von Meditation für Achtsamkeit

Trotz unterschiedlicher Strömungen, gibt es im Buddhismus den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Meditation. Das Ziel beim Meditieren ist, die Natur des Geistes zu erkennen und ihn zu beruhigen, indem wir unsere Aufmerksamkeit lenken, z. B. auf einen Gedanken, eine Empfindung oder unseren Atem. Regelmäßiges Üben hilft zu entspannen und Alltagsprobleme loszulassen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass wiederholtes Meditieren unser Denken, Fühlen, Immunsystem, die Hirnfunktion usw. positiv beeinflusst. Vor allem bei psychischem Stress konnten Verbesserungen beobachtet werden – führend ist hier der Psychologe Professor James Pennebaker.


Was ist die Definition von Achtsamkeit?

Achtsamkeit ist definiert als eine Geisteshaltung, in der wir bewusst den Augenblick wahrnehmen, ohne zu beurteilen oder zu bewerten. In diesem Zustand sind wir hellwach und erkennen die gegenwärtige Verfassung von Körper, Geist, Gefühlen und Objekten. Die Herausforderung ist, sich nicht vom Gedankenkarussel ablenken zu lassen. Wer hat schon einmal versucht an nichts zu denken? Genau, das ist schwierig! Es braucht regelmäßiges Achtsamkeitstraining, zum Beispiel durch ein tägliches Schreibritual, um auch nur annähernd erfolgreich „gedankenlos“ zu werden – by the way, nicht zu verwechseln mit „gedankenverloren“!


Was hat Schreiben mit Achtsamkeit zu tun?

Als eine Form der Aufmerksamkeit und Selbstfürsorge, hilft uns eine achtsame Grundhaltung, zur Ruhe zu kommen. Insbesondere gestresste Personen finden einen seelischen Ausgleich, wenn sie achtsam in ihrem Alltag leben! Und genau hier setzt die Methode des achtsamen Schreibens an, das uns ein ganzes Füllhorn an positiven Effekten beschert, unter anderen:


  1. es regt an, in uns hinein zu spüren, uns selber (genauer) zu beobachten und unsere Gefühle und Empfindungen besser wahrzunehmen

  2. indem wir unsere Gedanken samt Emotionen zu Papier bringen, werden wir uns ihrer bewusst(er)

  3. wir stärken durch achtsames Schreiben unser Selbst(mit)gefühl

  4. wir erkennen unsere Selbstwirksamkeit, d. h. was uns als Stärken auszeichnet

  5. wir werden aufmerksamer im Umgang mit uns selbst, aber auch mit anderen Menschen

  6. durch das Notieren der Gedanken, setzen wir unsere fünf Sinne bewusst ein – in Anlehnung an die zuvor erwähnte Panorama-Bewusstheit

  7. bei grübelnden und depressiven Menschen kann es negative Stimmungen reduzieren

  8. wir erkennen unsere Ziele und Wünsche, da klar formuliert

  9. als Folge des Schreibens kann unsere Empathie für uns und andere Menschen wachsen und

  10. unsere Resilienz steigt unter Umständen


Achtsamkeit als Sprungbrett für Resilienz

Den letzten Punkt greifen wir an dieser Stelle auf, um Resilienz von Achtsamkeit zu unterscheiden. Während Resilienz unsere emotionale Widerstandskraft gegenüber Stressauslöser beschreibt, kann Achtsamkeit als Grundhaltung unterstützend wirken, diese Widerstandskraft zu stärken! Kurz: Achtsamkeit ist ein Sprungbrett zu mehr Resilienz. Nur wenn wir erkennen und reflektieren, welche äußeren oder inneren Faktoren bei uns (Dis)Stress auslösen, ermöglicht dies uns, sie mit unserem Schutzschild abzuwehren. Im Idealfall kommt es erst gar nicht zur Stresssituation! Achtsames Schreiben unterstützt uns auf dem Weg, widerstandsfähiger zu werden. Pennebaker konnte nachweisen, dass unser Immunsystem stärker wird, weil wir Stress und negative Gefühle durchs Schreiben loswerden.


„Wenn du trinkst, trinke, wenn du schreibst, schreibe“ (Zen-Weisheit)

Sandra Miriam Schneider ist Dozentin für kreatives Schreiben und arbeitet u. a. auch als Schreibcoach. In ihren Augen führt Schreiben als Methode der Achtsamkeitspraxis zu mehr Klarheit und Gelassenheit für viele Lebensbereiche. Sie spricht von fünf Dimensionen, die achtsames Schreiben erfordert: Wir tauchen in den Moment des Schreibens ein ohne uns von den Gedanken ablenken zu lassen (Gegenwärtigkeit), bewerten weder unsere Gefühle noch Gedanken, geben uns nicht als Opfer unserer Emotionen hin (Nicht-Identifikation), agieren mit einer offenen Geisteshaltung, die im Anfang des Unbekannten liegt (AnfängerInnengeist) und wir kennen und schätzen uns selbst, setzen uns mit unserem inneren Kern auseinander (Selbstmitgefühl). Zugegeben, alles gleichzeitig zu beachten, ist nicht leicht, insbesondere als Neulinge, aber auch hier gilt: Übung macht die MeisterInnen.


Konzentrier‘ dich – nicht!

Und bitte: Nicht konzentrieren beim achtsamen Schreiben! Achtsamkeit ist abzugrenzen von Konzentration. Wenn wir achtsam sind, geht es um die Fülle unserer Wahrnehmung – vergleichbar mit einem Rundumblick von einem Berggipfel (Panorama-Bewusstheit). Sind wir konzentriert, fokussieren wir uns nur auf einen begrenzten Bereich oder Teilaspekt und blenden unsere Umgebung (und die meisten Sinne) aus! Beides sind völlig entgegengesetzte Konzepte, wenngleich wir beim Meditieren eine vermeintliche Konzentration benötigen: Wir kommen zur Ruhe, sind jedoch mit allen Sinnen hellwach.


Wie kann ich achtsam schreiben?

Fürs Achtsamkeitsschreiben gilt dasselbe wie fürs Meditieren: üben, üben, üben. Was am Anfang hilft, ist eine Routine, am besten täglich. Ob morgens oder abends oder zu welcher anderen Lieblingszeit, ist individuell verschieden. Am besten dann, wenn es passt! Wichtig ist, dass wir beim Schreiben ungestört und unbeobachtet sind. Daher klappt es für viele früh morgens oder spät abends, wenn Kinder, PartnerInnen oder MitbewohnerInnen noch oder schon schlafen. Zu Beginn reichen je nach Schreibbedarf 15 bis 30 Minuten; aber auch das variiert und unterliegt keinen starren Regeln. Betrachten wir diese Entscheidung bereits als erste Achtsamkeitsübung und hören in uns hinein: Was sagt unsere innere Stimme? Falls sie schweigt, einfach ausprobieren und nochmals nachhaken!


Stift & Papier: Eine Frage des Geschmacks

Wir brauchen kein exklusives, handgeschöpftes Papier oder einen maximal wertvollen Füllfederhalter – schön wäre es natürlich schon, wenn wir mit letzterem besonders leicht schreiben –, um achtsam schreiben zu können. Das „Werkzeug“, also Stift und Heft, sollte uns taugen und uns den Schreibvorgang leicht und angenehm machen. Stichwort: Achtsamkeit! Der Stift sollte bequem in der Hand liegen, flüssig schreiben und gut über das Papier gleiten. Verkrampfen unsere Finger bereits nach kürzester Zeit, liegt es unter Umständen am Stift oder an unseren brachliegenden, ungeübten Schreibmuskeln in der Hand!


Damit wir unsere Achtsamkeits-Sessions festhalten und später nachverfolgen können, ist ein Heft empfehlenswert. Lose Blättersammlungen eignen sich weniger: Sie fliegen herum, bieten kaum Chronologie und Nachvollziehbarkeit! Unsere Notizen sind zudem eine intime Angelegenheit oder wollen wir, dass andere unsere Aufzeichnungen lesen?

Aus eigener Erfahrung: Wenn wir das Heft ansprechend finden, es einen hübschen Einband hat und uns vom Schreibtisch anlächelt, dann gelingt die Routine leichter! Selbiges gilt auch für das Schreibgerät; ob Füller, Bleistift, Roller-Pen oder Kugelschreiber, Hauptsache wir schreiben gerne damit!


Formen des achtsamen Schreibens

Achtsames Schreiben hat viele Gesichter. Journaling beispielsweise hat in jüngster Zeit an Beliebtheit gewonnen. Das ist eine Schreib-Methode, bei der wir unsere Gefühle und Gedanken zu bestimmten Fragestellungen, Problemen oder Themen notieren, in den Fluss kommen ohne uns durch Kritik oder die inneren Bedenkenträger zu begrenzen. Das Motto lautet: Alles ist möglich! Es geht darum, in den sogenannten Flow zu kommen, was meditativ sein kann. Durch das Journaln gewinnen wir neue Ideen, Gedankenfetzen oder Eingebungen, die uns erneut inspirieren und für Weiteres motivieren. Es ist erstaunlich zu entdecken, wie viel in uns steckt! Die schriftlichen Ergebnisse manifestieren unsere Gedanken, so dass wir sie leichter strukturieren können.


Eine Variante des Journaling ist zum Beispiel ein Bullet-Journal, das Tagebuch, Kalender, To-Do-Liste und Post-Its kombiniert und der eigenen Kreativität freien Raum lässt. Jedes Bullet-Journal wird somit durch den Schreibenden zu einem Unikat!


In einem Dankbarkeitstagebuch widmen wir uns dem, was uns glücklich macht, wofür wir dankbar sind. Im Sinne der positiven Psychologie steigern wir unser Wohlbefinden, wenn wir diese positiven Empfindungen schriftlich festhalten. Das geht über klassisches Tagebuchschreiben hinaus.


Eine besondere Form des achtsamen Schreibens ist das Green Writing, heißt wir schreiben in der Natur. Befinden wir uns auf einer Wiese, an einem See oder vor hübschen Blumen auf dem Balkon an frischer Luft, verbinden wir uns durch das Schreiben mit unserer Umgebung. Wir nehmen die Natur mit allen Sinnen durch den unmittelbaren Kontakt in uns auf und halten unsere Beobachtungen, in Form von Gefühlen und Gedanken fest. Für die Hartgesottenen unter uns: Eine gezuckerte Winterlandschaft ist sicher ein besonderes Schreiberlebnis – wärmende Handschuhe oder ein warmes Plätzchen könnten sinnvoll sein!


Probieren geht über Studieren – das gilt einerseits für die Variante, die wir auswählen und andererseits für das Schreiben an sich! Einfach ran an die Stifte & Hefte und viel Spaß beim Ausprobieren des achtsamen Schreibens hin zu der „persönlichen Erleuchtung“! Angst vor Schreibblockaden? Sollten die auftauchen, einfach so lange „ich weiß nicht, was ich schreiben soll“ schreiben, bis was anderes kommt. Alternativ hilft eine positive Affirmation à la „ich habe Lust über meine Gedanken und Gefühle zu schreiben“. Wichtig ist anzufangen und geduldig ein paar Wochen Achtsamkeit im Alltag durchs Schreiben praktizieren. Verlieren können wir nichts, gewinnen Vieles!


It's up to you

Und wer jetzt meint, wir könnten genauso gut achtsames Schreiben mit digitalem Stift am smarten Endgerät praktizieren, teilt bitte seine*ihre Erfahrungen mit uns! Denn einer der nächsten Artikel handelt voraussichtlich (in Form eines Selbstversuchs) vom Unterschied zwischen klassischem Stift & Papier und seiner digitalen Version.



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